Ein Perspektivwechsel zur Digitalisierung der Bauindustrie

BIM und Digitalisierung

Was kommt eigentlich nach BIM?
und warum wir uns die Frage mit einem Perspektivwechsel auf andere Branchen beantworten können

„Die drei Buchstaben BIM markieren den Wandel, dem die gesamte Baubranche durch die BIM-Technik schon jetzt unterworfen ist und immer mehr unterworfen sein wird. Drei Buchstaben und ein Paradigmenwechsel, der die Bauwelt und damit die Welt verändert.“ So hieß es 2013 in der ersten Ausgabe dieses Sonderhefts: BIM – Building Information Modeling.

Wir alle sind davon ausgegangen, dass wir mit der Baubranche und dem Thema „BIM“ im Zentrum der Digitalisierung stehen, alles erfunden“ und in die neuen digitalen Methodiken „eingefügt“ haben (um es elegant auszudrücken). Die Realität zeigt aber, dass bis heute, Jahre später, genau die umgekehrte Tendenz zu spüren ist. Baukulturell, migratorisch und ökonomisch hat die Bauindustrie sich selbst verändern lassen. Und das zum Positiven! Die Digitalisierung der Baubranche funktioniert nicht mehr unter dem BIMDeckmantel, sondern wird hauptsächlich aus anderen Branchen bzw. den Nutzern unserer Gebäude, Bauwerke, Infrastruktur und zugehörigen Außenbereichen und -Anlagen bestimmt. Dazu zählen der Einfluss aus dem GIS-Sektor, aus der Produktion durch neue Möglichkeiten der Industrie 4.0, die Anforderungen von Smart Cities an das Leben und Arbeiten in den Gebäuden und auch die veränderte Nutzung der Infrastruktur durch autonomes Fahren sowie weitere Möglichkeiten durch die weitreichende Veränderung in der Mobilität. Die Digitalisierung steht derzeit branchenübergreifend für Kollaboration, das Aufbrechen von Datensilos, die Schaffung einer konsistenten Transparenz und der Optimierung von übergreifenden Prozessen entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Informationen sind konsistent und nur noch an einem Ort gespeichert: Die Single Source of Truth verkleidet als Plattform, CDE, Digitaler Zwilling oder Data Lake. Aber was bedeutet das?

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I like this better

Die Single Source of Truth hat einen ähnlichen Bekanntheitsgrad erlangt und steht in der Softwareindustrie als Inbegriff für disruptive Geschäftsmodelle. Auf Podien und in Vorträgen sind sich Sprecher wie Hörer einig: „Daten müssen zentral und für jedermann zugänglich gespeichert werden“. Aber stimmt das wirklich? Zum einen zeigt die Erfahrung, dass das oft gar nicht möglich ist. Die Vielfalt an
eingesetzten Systemen und damit verbundenen Schnittstellen lässt es nicht zu, dass alles am gleichen Ort und für jeden zugänglich gespeichert wird. Zum anderen bedeutet eine zentrale Quelle noch lange nicht, dass der Anwender schnell an die Daten gelangt, die er auch benötigt.

Und genau das ist der springende Punkt: Dem Anwender ist es komplett egal, wo die Daten gespeichert sind. Es geht nicht um das Produkt. Es geht um das Erlebnis. „Hey, I like this better than the old way“. So hat es einst Jeff Bezos auf den Punkt gebracht. Die Herausforderung ist also nicht, wie Daten gespeichert werden. Die Herausforderung ist, wie man an die
vorhandenen Daten gelangt, wie daraus Informationen entstehen und Wissen generiert wird. Auch hier zeigt die Entwicklung der letzten Jahre, dass die Disruption mit Ihren „Apokalyptischen Reitern“ die vermeintlich disruptiven Geschäftsmodelle in den digitalen Schatten stellt und sich somit ganz anders auswirkt als ursprünglich gedacht. Altes wird nicht ersetzt, sondern was sich bewährt hat wird genutzt! (Abbildung 1)

Abbildung 1: Die vier Apokalyptischen Reiter der Digitalisierung

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Single sources of truth

Doch wie werden nun aus den vorhandenen Daten brauchbare Informationen? Über die Laufzeit eines Bauprojekts werden BIM-Modelle mit Daten angereichert. Mit Übergabe der Dokumentation kommen Pläne, technische Datenblätter und Wartungsverträge dazu. All diese Daten werden dann – entgegen der Wunschvorstellung einer Single Source of Truth – oft an verschiedenen Orten abgelegt und gespeichert. Befindet sich ein Gebäude im Betrieb, taucht ein altbekanntes Problem auf: Egal, ob Wartung oder Umnutzung, als Anwender muss viel Zeit aufgewendet werden, um an die benötigten Daten zu gelangen. Die Daten sind in einer unüberschaubaren Systemlandschaft zwar irgendwo vorhanden, für den Anforderer von bestimmten Daten aber nicht sichtbar oder müssen durch manuellen Aufwand erst in einen gemeinsamen Kontext gebracht werden.

Schielt man auf die Industrie, kann man sich eines einfachen Prinzips bedienen, um die Sichtbarkeit der Daten herzustellen: Retrofit. Retrofit ermöglicht im Kontext von Industrie 4.0 insbesondere den Zugriff auf Daten und Informationen über produzierende Anlagen, die auf Grund Ihres Alters unter Umständen weder über einen Netzwerkzugang noch einen Computer verfügen oder eine nachträgliche Vernetzung aufwändig und teuer ist. Mit Hilfe von Sensorik kann jedoch der Zustand einer Anlage erfasst und im digitalen Abbild des Produktionsprozesses genutzt werden. Es entsteht ein digitaler Zwilling der Anlage.

Methoden der Künstlichen Intelligenz können diese Daten nutzen, um Normalzustände zu erlernen und Abweichungen in Echtzeit zu erkennen. Bei einem Unternehmen, das beispielsweise Fahrradrahmen produziert und hierfür Stahlrohre zuschneidet, kann die Säge mit Vibrationen ausgestattet werden. Dadurch wird nicht nur erfasst, wann und wie lange die Säge verwendet wird, sondern auch erlernt welche Vibrationen beim Sägen eines Stahlrohres auftreten. Somit können Abweichungen vom Soll-Prozess in Echtzeit automatisch erkannt und die Produktionsanlagen entsprechend vorausschauend gewartet werden.

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Retrofit – Industrie 4.0 trifft BIM

Retrofit bringt also nicht nur Sichtbarkeit in den Produktionsprozess, sondern legt auch den Grundstein für smarte und automatisierte Lösungen für die Zukunft, und das ohne, dass die „alte“ Anlage dafür ersetzt werden muss. Die eigentlich „alte“ Anlage wird also mit jedem Vorgang schlauer oder – um im Jargon der Digitalisierung zu bleiben: Die „alte“ Anlage ist jetzt dank Machine Learning smart und connected.

Dieses Prinzip lässt sich auf das Problem mit der Sichtbarkeit von Daten im Bau übertragen. Analog zu den „alten“ Anlagen in der Industrie müssen die über die Phasen des Lebenszyklus einer Immobilie eingesetzten Systeme und Prozesse nicht durch neue, vermeintlich bessere ersetzt werden. Nein, die vorhandene Infrastruktur muss an die neuen digitalen Anforderungen angepasst werden. Analog zu den Sensoren im Industrieumfeld, können auch heute schon flexible Konnektoren auf die bestehende Infrastruktur zugreifen. So können die Daten nicht nur „minimal-invasiv“ sichtbar gemacht werden, sondern auch aus verschiedenen Systemen zusammen betrachtet und analysiert werden. Mit anderen Worten: „aus Daten Informationen ableiten und daraus Wissen generieren.“ (Abbildung 2)

Abbildung 2: BIM meets Industrie 4.0
Abbildung 2: BIM meets Industrie 4.0

Bringt man nun z. B. die beiden Welten von Industrie 4.0 und BIM im Kontext von Planen, Bauen und Betreiben 4.0 zusammen, so stellt man schnell fest, wie beide voneinander profitieren können. Auf der einen Seite gibt es bereits smarte und vernetzte Anlagen in der Industrie, auf der anderen Seite weitere Daten aus einem Bauprojekt, die das Zusammenspiel maßgeblich bereichern.

Lägen dem Unternehmen, das z. B. Fahrräder produziert, auch digitale Gebäudedaten vor, könnte es seine Betriebsabläufe weiter optimieren. Angenommen, die Produktion der Fahrradrahmen weist immer über die Mittagszeit Fehler oder Qualitätsmängel auf, könnte die Ursache hierfür im Zusammenhang mit der Umgebung der Anlage oder dem Gebäude selbst stehen. Auch für die Wartung oder für Umbauplanungen ergeben sich konkrete Vorteile. Mit Hilfe von Modellen lassen sich die zu wartenden Anlagen direkt verorten. Allein die visuelle Komponente bringt einen erheblichen Mehrwert.

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Was haben wir bis heute gelernt?

Die Digitalisierung findet überall statt und beeinflusst sich an vielen Schnittstellen. Egal, ob Industrie oder Bau – die Weichen für die Zukunft werden fleißig gestellt. Industrie 4.0 und auch BIM liefern genügend Daten in digitaler Form als Grundstein. Was allerdings fehlt ist ein übergeordneter Layer, der all die vorhandenen Daten aus einer Vielzahl an Systemen der beiden Welten zusammenbringt, zu brauchbaren Informationen formt und daraus Wissen generiert. Am Ende ist nicht das Produkt für ein Informationsmanagement entscheidend, sondern die nachhaltige Usability von Daten, aus verschiedenen Sichtweisen ist ausschlaggebend. Die Ansätze, die auf proprietäre Schnittstellen aufbauen, sind für die langfristig denkenden Unternehmen nicht akzeptabel. Industrie 4.0 ist gewohnt, mit enormen Massen an offenen Schnittstellen umzugehen.

Man hat halt in den letzten Jahrzehnten viel gelernt – insbesondere, dass die Schlagwörter unsere Zeit im Markt zwar ganz toll klingen, aber der Ansatz einer Digitalen Strategie nicht mit neuer Software, sondern mit den Füßen auf dem Boden und „with the End in Mind“ passieren muss. Diesseits Esoterik gilt hier: Der Weg ist das Ziel. (Abbildung 3)

Abbildung 3: vrame